Veranstaltung: | 49. Landesparteitag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sachsen-Anhalt |
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Tagesordnungspunkt: | 9. Anträge |
Status: | Beschluss |
Beschluss durch: | Landesparteitag |
Beschlossen am: | 07.10.2023 |
Eingereicht: | 20.09.2023, 16:53 |
Bürger*innenRäte in Sachsen-Anhalt fördern
Beschlusstext
Der Landesparteitag möge beschließen:
a) dass die demokratische Beteiligung und Einbindung der Bürger*innen in
Sachsen-Anhalt durch die Einrichtung und Erprobung von sog. Bürger*innenRäten
gefördert werden soll. Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die
repräsentative Demokratie. Mit Bürger*innenRäten soll die Möglichkeit geschaffen
werden, bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von Bürger*innen noch
direkter in die Gesetzgebung ein fließen zu lassen. Zufällig ausgewählte
Bürger*innen beraten in einem festgelegten Zeitraum über eine konkrete
Fragestellung und erarbeiten Handlungsempfehlungen und Impulse für die
öffentliche Auseinandersetzung und die parlamentarische Entscheidung. Es gilt
sicherzustellen, dass die Teilnehmenden sich frei, gleich und fair eine Meinung
bilden können und dass ihnen ausreichend Raum für eine intensive
Auseinandersetzung mit der Fragestellung gegeben wird. Bürger*innenRäten kommt
eine rein beratende Funktion für die öffentliche Debatte und Gesetzgebung zu.
Regierung und Parlament müssen sich mit den Ergebnissen auseinandersetzen, ihnen
aber nicht folgen. Bürger*innenRäte können auf Initiative der Regierung, des
Parlaments oder als Bürgerbegehren zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt
werden.
b) sowohl auf Kommunal- als auch auf Landesebene soll das Instrument der
Bürger*innenRäten erprobt und in bestehende Entscheidungsstrukturen eingebracht
werden.
c) alle bündnisgrünen Amts- und Mandatsträger*innen werden aufgefordert die
Einbindung von Bürger*innenRäten für ihre jeweilige Körperschaft zu evaluieren
und zu fördern.
Begründung
Begründung:
Zum einen geht es darum, sich die bündnisgrüne Bundesbeschlusslage von 2020 noch einmal in Erinnerung zu rufen und für Sachsen-Anhalt anzupassen und anzuwenden.
Andere gesetzgeberische Ebenen nutzen dieses Instrument bereits mehr oder weniger regelmäßig. So gibt es bereits eine ganze Reihe von abgeschlossenen kommunalen Bürger*innenRäte[1] und einige auch auf der Länderebene.[2] Vorreiter ist hier das Land Baden-Württemberg, welches unter bündnisgrüner Leitung bereits 2011 eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung einsetzte und somit unter anderem das Instrument der Bürger*innenRäte stärkte. Auf bundespolitischer Ebene einigten sich die Parteien der Ampel-Koalition ebenfalls auf die Stärkung und Durchführung dieses Instruments[3] und der Bundestag hat dieses Jahr zum ersten Mal einen nationalen Bürgerrat eingerichtet.[4][5]
Im Februar dieses Jahres erschienen die Policy Paper des Else Frenkel-Brunswik Instituts zum Thema „AUTORITÄRE DYNAMIKEN UNDDIE UNZUFRIEDENHEIT MIT DER DEMOKRATIE“ und stellten eine erschreckende Entwicklung in den Ostdeutschen Ländern fest.[6] Neben traurig hohen Zustimmungswerten zu rechten Ideen in den neuen Bundesländern, untersuchten die Wissenschaftlicher*innen auch die Zufriedenheit mit der Demokratie. Der Länderbericht zu Sachsen-Anhalt sollte als Mahnung und Anlass genommen werden die politische Teilhabe neu zu denken. „In Sachsen-Anhalt sind rechtsextreme Einstellungen und politische Deprivation am weitesten [von allen ostdeutschen Ländern] verbreitet.“[7] Zwar sind 68% der Befragten in Sachsen-Anhalt mit der Verfassung zufrieden, aber nur 34 % sind mit der Demokratie im Alltag zufrieden (niedrigster Ostdeutscher Wert).[8] Dabei haben 81% der Menschen (vier von fünf Menschen!) den Eindruck, keinen Einfluss auf die Regierung zu haben. Diese Unzufriedenheit spiegelt sich auch in der letzten Bürgermeisterwahl in Raguhn-Jeßnitz wider.
Zu einem ähnlichen düsteren Bild kommt auch eine repräsentative Umfrage der Körber-Stiftung.[9] Neben zu wenig Zeit, bilden auch mangelndes Vertrauen (in die eigenen Fähigkeiten) und Angst vor Anfeindungen ein großes Abschreckungspotenzial sich mehr zu engagieren. Daneben wünschen sich jedoch 86% der Deutschen, dass Bürger:innen bei wichtigen Entscheidungen stärker einbezogen werden. Dies bezieht sich vor allem auf die kommunale Ebene (93%) sowie Landesebene (91%).
Auch werden teilweise Wahlen mit Themen bestritten, die nicht in die Kompetenzen der jeweiligen zu wählenden Gremien fallen. Bürger*innenRäte sollen daher helfen die politische Bildung der Teilnehmenden zu fördern und Wissenslücken zu schließen. Komplexe thematische und verfahrenstechnische Vorgänge können für die Teilnehmenden erläutert und sichtbar gemacht werden. Die Teilnehmenden können sodann als Multiplikatoren helfen, Wissenslücken zu schließen und falsche Annahmen innerhalb der Bevölkerung auszuräumen.
[1] Siehe Übersicht auf: https://www.buergerrat.de/buergerraete/lokale-buergerraete/.
[2] Siehe Übersucht auf: https://www.buergerrat.de/buergerraete/buergerraete-in-den-laendern/.
[3] Siehe Koalitionsvertrag SPD/Grüne/FDP 2021, S. 8.
[4]https://www.bundestag.de/buergerraete.
[5]https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw29-buergerrat-lotterie-958134.
[6] Siehe Policy Paper auf: https://efbi.de/details/efbi-policy-paper-2023-2-autoritaere-dynamiken-und-die-unzufriedenheit-mit-der-demokratie.html.
[7] Ebd., S. 36.
[8] Ebd., S. 38.
[9]https://koerber-stiftung.de/presse/mitteilungen/deutsche-verlieren-vertrauen-in-ihre-demokratie/.
Konzept:
Das Konzept der Bürger*innenRäte geht auf die Ansätze deliberativer Demokratie-Theorien zurück. In den letzten zwei Jahrzehnten wurden Bürger*innenRäte sowohl von wissenschaftlicher als auch politischer Seite immer stärker beachtet. Durch Bürger*innenRäte soll die Zivilgesellschaft stärker in Entscheidungsprozesse der repräsentativen Institutionen eingebunden werden, sodass eine breitere Partizipation und somit höhere Legitimation der Entscheidung entstehen. Sie werden daher auch als „mini publics“ bezeichnet.
Aus dem Konzept der deliberativen Demokratie lassen sich für Bürger*innenRäte mehrere Vorgaben ableiten, die für einen idealtypischen deliberativen Umgang mit einzelnen Themen nötig sind. Sie müssen aus einer ausreichend großen, heterogenen Gruppe an Menschen bestehen, die in umfangreichen Beratungen zu einem mehr oder weniger konkreten Thema beraten. Diese Beratung muss in den Wirkbereich der Gesetzgebung oder Verwaltung einfließen.
Damit ein Bürger*innenRat auch zu einer „mini public“ wird, muss diesem eine bestimmt große Gruppe an Menschen angehören. Damit er ein Spiegelbild der Gesellschaft wird, müssen sich alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen darin wiederfinden. Durch ein Losverfahren soll sichergestellt werden, dass alle Ausrichtungen gleichermaßen Zugang zu diesem Gremium bekommen. Die Stichprobe der Bevölkerungsgruppe soll das Problem stellvertretend für ihre Grundgesamtheit ausgiebig beraten.
Wer diese gesellschaftlichen Gruppen sind bzw. nach welchen Kriterien die Teilnehmer eingeteilt und ausgelost werden, muss im Vorfeld konkretisiert und vermittelt werden. Kriterien können Merkmale wie Geschlecht, Alter, Konfession, soziale Herkunft oder andere Eigenschaften sein.
Gerade die freiwillige Teilnahme an den Bürgerräten erfordert zusätzliche Anstrengungen und Vorkehrungen, sodass Gruppen, die sich sonst weniger in der politischen Öffentlichkeit äußern, gezielter mitgenommen werden.